Versprechen als kulturelle Konfigurationen in politischen Kontexten. Zur Konturierung eines Konzepts

Versprechen als kulturelle Konfigurationen in politischen Kontexten. Zur Konturierung eines Konzepts

Organizer(s)
Cornelia Eisler, Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE), Oldenburg; Katharina Schuchardt, Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV), Dresden
Location
Dresden
Country
Germany
Took place
In Attendance
From - Until
04.05.2022 - 06.05.2022
By
Frauke Geyken, Göttingen; Natalie Reinsch, Museumsverband für Niedersachsen und Bremen e.V.

Das Versprechen kann als ein zentrales Element gesellschaftlichen Zusammenlebens verstanden werden. Soziale Praktiken, Diskurse und Deutungen der Gegenwart werden unmittelbar von Versprechen geprägt. Sie durchdringen zahlreiche Bereiche des Alltags, beeinflussen zwischenmenschliche Interaktion und sind an Erwartungen, Hoffnungen und Imaginationen gebunden. Das Versprechen als eigenständiges Konzept zu betrachten und explizit zu thematisieren, war das Ziel dieser Tagung, zu der zwei Kulturanthropologinnen eingeladen hatten. Untersucht wurde sowohl die theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff als auch seine praxeologische Verwendung in politischen Kontexten.

Thomas Kübler (Dresden) begrüßte als Leiter des Stadtarchivs die Teilnehmenden mit dem augenzwinkernden Hinweis darauf, dass Versprechen in Archiven revisionssicher abgelegt seien. Andreas Rutz, der Direktor des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde (Dresden), lieferte eine erste Definition des sehr komplexen Begriffs „Versprechen“: Mit dem Blick in das Grimmsche Wörterbuch sprach er von Versprechen als „verbalen Ankündigungen in der Gegenwart für ein Handeln in der Zukunft“. Matthias Weber, Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (Oldenburg), unterstrich die Aktualität des Themas im Hinblick auf die gegenwärtige Ukraine-Politik.

In ihrer Einführung verwiesen Cornelia Eisler und Katharina Schuchardt auf die Allgegenwärtigkeit von Versprechen, etwa im Zusammenhang mit dem Corona-Virus oder auch in Bezug auf Donald Trumps Wahlkampfrhetorik „Promises made, promises kept“. Ihnen zufolge seien Versprechen Indikatoren für eine soziale Transformation. Ziel der Organisatorinnen sei es, die Analysekategorie „Versprechen“ für die kulturanalytische Forschung nutzbar zu machen bzw. ihr Potenzial auszuloten. Mit der Tagung wollten sie interdisziplinäre Ansätze erproben und unterschiedliche Perspektiven zusammenbringen. Zentrale Theorien stammten bislang von der Sozialanthropologin Simone Abram, dem Sozialphilosophen Burkhard Liebsch und der Kulturanthropologin Alexa Färber, die auf der Tagung mit Beiträgen vertreten waren.

SIMONE ABRAM (Durham) stellte in ihrer Keynote Beispiele für politische und ökonomische Versprechen aus dem Nordosten Englands, einer traditionellen Bergbauregion, vor. Seit der Entscheidung der damaligen Premierministerin Margret Thatcher, die Subventionen für den Bergbau zu streichen, und dem Miner’s Strike 1984/85 habe sich die Region zu einer der ärmsten des Landes entwickelt. Kohle sei zuvor ein Versprechen auf Wohlstand gewesen, obwohl dieser ungleich verteilt war. Abram beschrieb drei Heiz-Projekte aus der Region, die an der Umsetzung scheiterten; es ging um das aufwendige Verfahren, das Grundwasser, das sich in den nicht mehr genutzten Minen sammelt, zum Heizen zu nutzen. Abram verwies auf die emotionalen Bezüge historischer Versprechungen. Dies sei auch der Grund gewesen, warum der Stadtrat keine neuen Versprechen geben wollte; die Schließung der Minen werde bis heute als Verrat und als ein schmerzhafter Prozess angesehen.

Im ersten Panel befassten sich zwei Vorträge mit den Versprechen politischer Akteur:innen und deren Folgen für die Betroffenen. THERESA GILLINGER (Wien) nahm die Ambivalenz der österreichischen Sozialdemokratie (SPÖ) in den Migrationsdebatten der späten Habsburgermonarchie in den Blick. Einerseits habe sich die SPÖ der internationalen Solidarität verpflichtet gefühlt und sich für die Freizügigkeit der Arbeitsmigrant:innen eingesetzt. Andererseits seien nicht alle Einwander:innen gleichermaßen willkommen gewesen, da sie von heimischen Arbeitskräften als Bedrohung auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen wurden. Insbesondere italienische Arbeitskräfte seien als „Streikbrecher:innen“ und „Lohndrücker:innen“ stigmatisiert worden.

TOBIAS WEGER (München) nahm ein konkretes Versprechen in den Blick, das gebrochen wurde, und zeigte asymmetrische Machtkonstellationen auf. Mit der Parole „Heim ins Reich“ versuchte das NS-Regime, „Volksdeutsche“ für die Germanisierungspolitik im besetzten Polen zu gewinnen1. 1940 schloss NS-Deutschland ein Abkommen mit Rumänien, bei dem die Betroffenen nicht eingebunden wurden. Infolge des Abkommens verließen die meisten Dobrudschadeutschen Rumänien. Versprochen wurden ihnen große Neubauernstellen, die deutsche Staatsangehörigkeit und weitere Privilegien. Die Realität sei aber für viele Dobrudschadeutsche ernüchternd gewesen: lange Lageraufenthalte, erniedrigende medizinische Untersuchungen, Unterbindung religiöser und sozialer Praktiken sowie die Ansiedlung in besetzten Gebieten und nicht im Deutschen Reich. Widerstand gab es vor allem bei katholischen Dobrudschadeutschen, die sich mit Verweis auf die Nichterfüllung der gemachten Versprechen weigerten, sich einbürgern zu lassen. Das NS-Regime reagierte mit der Überstellung der sich Weigernden in die KZs Ravensbrück und Flossenbürg.

Im nächsten Panel untersuchte CHRISTINE HÄMMERLING (Zürich) am Beispiel der Spendeneinwerbung von Amnesty International das Verhältnis von Vertrauen, Versprechen und Authentizität. Wie bei anderen Nichtregierungsorganisationen wachse auch bei Amnesty der Druck, sich zu professionalisieren, so dass das Face-to-Face-Fundraising zunehmend von sogenannten Dialoger:innen übernommen werde, die oftmals nicht bei der NGO selbst, sondern bei einem Drittunternehmen angestellt seien. Hämmerling schilderte diese Dreiecksbeziehung zwischen Spendensammler:in, Spender:in und NGO als ein asymmetrisches Verhältnis, das nicht in alle Richtungen gleich stark auf Vertrauen und Versprechen basiere. Während die Spender:in den Angaben der Spendensammler:in und der NGO vertrauen müsse, gingen die beiden letztgenannten kein vergleichbares Risiko ein.

Indem sie das ungewisse Potenzial von Digital-Humanities-Projekten ausleuchtete, betrachtete CORNELIA EISLER (Oldenburg) das Versprechen nicht im Sinne eines Sprechaktes, sondern fragte nach anderen Formen der Verbindlichkeit, die einem Versprechen gleichkämen. Der Begriff der Digital Humanities suggeriere Objektivität durch die Dominanz von Zahlen, mit denen Projektanträge ausgekleidet werden müssen, um der Kontingenz des zukünftigen Geschehens entgegenzutreten. Die Anträge enthielten indirekte Versprechen, wie etwa das des komfortablen Arbeitens, das durch Digitalisierung effektiver und schneller werde, oder das Versprechen des Wissenszuwachses durch die digitalen Möglichkeiten, schließlich ein generelles Transformationsversprechen, mit den Digital Humanities prinzipiell auf der Seite der Zukunft zu stehen. Eisler wies aber auf die Ungewissheiten hin, die gleichermaßen mit den DH verbunden seien: Kontingenz und Flexibilität bergen auch das Risiko von Komplikationen; das Problemlösungsversprechen, trage zugleich den unauflösbaren Widerspruch von Sicherheit und Ungewissheit in sich.

Im dritten Panel wurden zwei Beispiele aus der oberschlesischen Bergbauregion vorgestellt, denen ein weiteres Verständnis von Versprechen zugrunde lag. EWA HENGIER (Złocieniec) berichtete, dass Bergleute in der oberschlesischen Montanregion den Schutz der heiligen Barbara erbitten, obwohl sie längst nicht mehr konfessionell gebunden sind. Das Versprechen der Protektion durch die Patronin des Bergbaus erzeuge Solidarität, die zu der überlebenswichtigen Verlässlichkeit und damit Sicherheit unter Tage führe. Das Versprechen sei als mentales Konstrukt präsent und finde vielfältigen Ausdruck in der Kunst, zum Beispiel in Heiligenfiguren aus Kohle. Vor allem aber finde es seinen Ausdruck in der sozialen Praxis, in tradierten Bräuchen und Ritualen. Es sei, so Hengier, ein beobachtendes Lernen, durch das dieses immaterielle kulturelle Erbe tradiert werde. Hengier bediente sich der Social Cognitive Theory (SCT) und der performativen Anthropologie, um herauszuarbeiten, wie die besondere Arbeitsumgebung und der immer noch gefährliche Arbeitsalltag der Bergleute diese charakteristische Beziehung zur heiligen Barbara formen.

BEATA PIECHA-VAN SCHAGEN (Chorzów) nahm am Beispiel des immateriellen Erbes der Bevölkerung Oberschlesiens das Versprechen auf Identität in den Blick. Vom Versprechen auf Wohlstand angelockt, kamen viele Migrant:innen in diese Bergbauregion. Die politischen und wirtschaftlichen Faktoren waren ausschlaggebend, ob sie sich weitgehend abgrenzten oder zugehörig fühlten. Anhand des gelebten immateriellen Kulturerbes zog Piecha-van Schagen Rückschlüsse auf den Prozess der Identitätsbildung. Nach der nationalsozialistischen Besatzung und dem kommunistischen Regime sei es erst jetzt möglich, an alte Traditionen und Identitäten anzuknüpfen. Piecha-van Schagen machte drei Gruppierungen aus, die unterschiedliche Identitäten pflegten: die ältere Generation von Deutschen, die versuche, innerhalb ihrer kleinen Community an dem den Vorfahren gegebenen Versprechen zur Bewahrung der Identität festzuhalten, die sogenannten Autochthonen, die über Mitglieder in allen Altersklassen verfügten und die 30- bis 40-Jährigen, die von den ehemaligen Arbeitsmigrant:innen abstammten, sich assimiliert hätten und sich mit Oberschlesien identifizierten.

Das nächste Panel nahm die Frage nach einem guten Leben bzw. einer lebenswerten Zukunft in den Blick. CORNELIA DLABAJA (Wien) referierte über Imaginationen urbaner Zukünfte in visuellen Repräsentationen (Renderings). Am Beispiel des Wiener Stadtentwicklungsgebiets Seestadt zeigte sie, wie mithilfe von Renderings Stadtvorstellungen und damit verknüpfte Wertehaltungen bei potenziellen Einwohner:innen evoziert wurden. Diese Renderings motivierten Menschen, in die Seestadt zu ziehen, da mit ihnen das Versprechen auf ein gutes Leben in dem neuen Stadtviertel verbunden wurde.

KATHARINA SCHUCHARDT (Dresden) behandelte das Thema Kohle bzw. Kohleausstieg am Beispiel des Strukturwandels in der Lausitz. Die Braunkohle, der einzige heimische Energieträger in der DDR, stand ursprünglich als Versprechen für Fortschritt, Wohlstand und Unabhängigkeit. Mittlerweile ist sie zum Schlagwort für Umweltverschmutzung geworden und ein Synonym für Zukunftsabwesenheit. Schon nach der Wende 1989 sei klar gewesen, dass es einen Strukturwandel geben müsse. Doch der Abwicklung der dortigen Industrieregion, die von 79.000 Beschäftigten gegenwärtig nur 8.000 übrigließ, folgten keine „blühenden Landschaften“. Das vielbemühte Zitat Helmut Kohls entlarvte die Verheißungen als gebrochene Versprechen. Es blieben Enttäuschung und Desillusionierung, die den jetzt im Zuge der Energiewende erneut unternommenen Versuch eines Strukturwandels enorm belasten. Können Versprechen ohne Vertrauen überhaupt Wirkmacht entfalten? Zumal die Praktiken der Erneuerung Zweifel an den positiven Folgen der gemachten Versprechen wecken, weil nicht alle gleichermaßen von den bereitgestellten finanziellen Mitteln partizipieren können und Ungleichgewichte hervorgerufen werden. Der Strukturwandel wird als Partizipationsprozess inszeniert, doch entlarvt nicht gerade die konkrete Durchführung der Maßnahmen das Versprechen als de facto „hegemonialen Prozess“?

Die Macht der Versprechen und „versprechende Gefüge“, die als Assemblage analysiert werden können, standen im Mittelpunkt des Abendvortrages von ALEXA FÄRBER (Wien). Den Einstieg bildeten Szenen aus dem 2021 erschienenen Film „Les Promesses“ von Thomas Kruithof, der sich mit Versprechen als „Währung“ der Politik beschäftigt, hier am Beispiel eines Wohnprojektes und einer Bürgermeister:innenwahl in Frankreich. Färber diskutierte die Wirkmächtigkeit und die Ambivalenzen von Versprechen, wenn diese einmal gegeben wurden und nicht gebrochen werden sollen sowie die damit eng verknüpfte Frage des Durchhaltens. Versprechen vermitteln einen Gegenwartswert für die Zukunft und einen Vergangenheitswert für die Gegenwart. In ihrer Komplexität sind sie schwierig zu fassen, obgleich organisierend, verbindlich unverbindlich, als Narrativ und mit einer affektiven Dimension versehen. Zugleich fragte Färber nach dem Umgang mit Inkonsistenz im Fachdiskurs der Kulturanthropologie und nach den Möglichkeiten der Assemblageforschung, die Qualitäten und Potenziale von Versprechen auch als gemeinschaftsstiftende Narration auszuloten.

BURKHARD LIEBSCH (Bochum) fragte nach Grenzen des Versprechens, indem er das Versprechen im Singular im Spiegel politischer Theorie beleuchtete. Je mehr und je lauter von Versprechen geredet werde, desto schlechter sei es um das Vertrauen in die Politik bestellt. Liebsch untersuchte die Spielräume des Versprechens als sozialer Institution. Das jenseitige, christliche Heilsversprechen sei für uns kaum noch relevant, daher habe das diesseitige Versprechen im Hier und Jetzt umso größere Bedeutung. Staatliche Institutionen versprächen, was sie gar nicht zu halten imstande seien; Liebsch sprach sogar davon, dass wir aktuell auf einem „Friedhof der nicht gehaltenen Versprechen“ lebten. Wie könnten Institutionen bestehen, die so massiv versagt hätten, weil sie statt Versprechen zu halten, wissentlich und willentlich den Komplementärbegriff der Enttäuschung (über das gebrochene Versprechen) bedienen? Müssen wir uns trotzdem auf die Institutionen verlassen, von denen wir wissen, dass sie leere Versprechen machen? Die Antwort laute ja, wir müssen in diesem Spannungsfeld ausharren, wenn wir daran „festhalten, dass wir ein soziales Leben leben“, das ja auf soziale Institutionen angewiesen ist. Liebsch wies abschließend auf die Gefahr der Depolitisierung hin, die in dieser Reihung von Versprechen, Erwartung, Hoffnung und Enttäuschung liege.

STEFAN GROTH (Zürich) beschäftigte sich mit der Bedeutung von Versprechen in multilateralen Verhandlungen über Kulturgüter in den Vereinten Nationen. Er schilderte, wie im Gremium der World Intellectual Property Organization (WIPO) das Versprechen eines rechtsverbindlichen Abkommens immer wieder hochgehalten und verschoben, erneuert und hinterfragt wurde. Groth zeigte, wie das Versprechen als kommunikative Form mit kontingenten Antizipationspraktiken verknüpft ist und wie politische Akteure – Staatsvertreter, NGO-Personal, Verwaltungspersonal – zukünftige Entwicklungen als Versprechen bezeichnen. Basierend auf einer (laufenden) Ethnographie des WIPO-Komitees, fragte er nach dem konzeptionellen Versprechen des Versprechens als analytischem Ansatz.

In ihrem Vortrag zur Gendiagnostik konzentrierte sich INSA HÄRTEL (Berlin) auf das Beispiel der Mastektomie Angelina Jolies im Jahr 2013. Die Schauspielerin hatte sich als Präventionsmaßnahme gegen Brustkrebs vorsorglich zur Entfernung ihrer beiden Brüste entschlossen. Prävention erscheint hier als das Versprechen, einer Zukunft zuvorkommen zu können, die „ansonsten schlechter ausfiele“. Härtel dekonstruierte Angelina Jolie als „mediales Personenkonstrukt“. Sie habe unter anderem durch exzessiven Drogenkonsum von sich reden gemacht und sich bei all ihrem Tun durch Maßlosigkeit ausgezeichnet und sei von ihrer verruchten Vergangenheit zur Supermutter und Weltenretterin weitergeschritten. Härtel bilanzierte, die oder der einzelne sei für ihr oder sein genetisches Risikomanagement selbst verantwortlich, ein „Scheitern“ spiegele die neoliberale Transformation des Sozialen.

DARIUSZ KOMOROWSKI (Wrocław) widmete sich dem Versprechen am Beispiel literarischer Manifeste. Manifeste erschienen vermehrt in Umbruchzeiten, Zeiten ohne Manifeste seien Phasen der Erstarrung. Denn bei Manifesten handele es sich um utopische Entwürfe, d.h. sie haben einen politischen Metatext, der das Versprechen einer besseren Zukunft transportiere. Dennoch sei das Manifest als Fragment nicht auf die Vollendung in der Zukunft angewiesen. Komorowski exemplifizierte seine These zunächst am European Balcony Project von Ulrike Guérot und Robert Menasse, die 2018 unter der Leitung des European Democracy Lab Menschen in ganz Europa dazu aufforderten, zu einem bestimmten Zeitpunkt ihr Manifest gegen ein gescheitertes Europa der Nationalstaaten von einem Balkon aus zu verlesen und die Europäische Republik auszurufen. Hier werde das formulierte Versprechen eingelöst. Das zweite Beispiel war eine Rede des seit 2018 in der Türkei inhaftierten türkischen Schriftstellers Ahmed Altan, die er aus dem Gefängnis heraus an seine Unterdrücker und an seine Schicksalsgenossen in aller Welt richtete. Sein Fall stünde für das Durchhalten und die Hoffnung – zwei Aspekte, die unauflöslich mit dem Versprechen verknüpft seien. Der Autor, der eingekerkert sei, manifestiere mit seiner Schrift, dass er frei sei. Etwas könne schließlich vollzogen werden, wenn es bereits einmal künstlerisch imaginiert wurde, darin liege die Macht der Literatur.

SILKE GÖTTSCH-ELTEN (Kiel) übernahm die schwierige Aufgabe, die vielen und unterschiedlichen Stränge der Tagung zu bündeln und machte deutlich, dass das Thema großes Potenzial birgt. Zwar seien wir alle durch ein vorwissenschaftliches Verständnis von Versprechen beeinflusst, doch wenn wir uns mit dem Versprechen als analytischer Kategorie befassen, werde die Vielfalt der Bezüge sichtbar, die zu diesem Konzept hergestellt werden könnten. Göttsch-Elten griff drei Fragen auf, die die Veranstalterinnen eingangs gestellt hatten.

Auf die Frage, wo Versprechen sicht- und fassbar werden, sei festzustellen, dass sie allgegenwärtig seien, fast alles sei als Versprechen beschreibbar. Sie seien ein Teil von sozialer Kommunikation, nicht dialogisch organisiert, aber ein aus der Alltagskommunikation herausgehobener Modus des sozialen Austausches mit Vor- und Nachgeschichte. Die Vorträge hätten deutlich gemacht, dass es sehr wichtig sei, diese in die Betrachtung einzubeziehen. Göttsch-Elten verwies auf die Bedeutung der historischen Dimension, die als Wegweiser für die Konzeptualisierung zu nutzen sei. In schriftlosen Gesellschaften habe die mündliche Vereinbarung den Charakter des Rechtsaktes gehabt. Die Einhaltung sei durch soziale Sanktionen abgesichert gewesen. Durch die Verschriftlichung wurde der nichtschriftliche Akt abgeschwächt. Das Ritual könne Bestandteil von Versprechungen bleiben, jedoch verändere sich die Verbindlichkeit und die Qualität der Abmachung. Das Versprechen sei ein Identitätsmarker von Beschreibung der Gesellschaft; damit entziehe es sich einer schnellen Definition. Es gebe den normativen Begriff, aber auch den, der sich aus der Feldforschung speise, den akteurszentrierten Zugang aus der Sicht der Kulturanthropologie.

Zur zweiten Frage, welche Bedeutung, Folgen und Funktionen mit dem Versprechen verbunden seien, plädierte die Referentin wiederum für die Kontextualisierung, die Einbindung in Zeit, Raum und Milieu. Sie stellte die Frage nach Macht und Asymmetrie, (De-)Stabilisierungspotenzial und Sanktionsmöglichkeiten. Versprechen könnten zudem abgelöst sein von sozialer Kommunikation, eingeschrieben sein in Materialität (Renderings, Infrastrukturen).

Die dritte Frage schließlich lautete, wie wir Versprechen konzeptualisieren und durch kulturelle Analyse zugänglich machen können. Bezogen auf Färbers Abendvortrag machte Göttsch-Elten die Regulierung von Zeitverhältnissen stark: Wie ist das Verhältnis von Versprechen und Erfahrungen? Was bewirkt die Enttäuschung über gebrochene Versprechen? Wie sehen Transformationen und Dysfunktionalitäten aus? Dies setze einen offenen Begriff voraus, wie auch Groth ihn vorgeschlagen hat.

Die Tagung konnte zeigen, dass der interdisziplinäre Austausch von Forschungen zur Thematik „Versprechen“ sehr gewinnbringend sein kann und unterschiedliche Perspektiven aufzeigt. Am überzeugendsten waren jene Beiträge, in denen Versprechen als Analysekategorie theoretisch definiert und klar umrissen wurde, was damit gemeint war.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Thomas Kübler (Dresden); Andreas Rutz (Dresden); Matthias Weber (Oldenburg)

Einführung

Cornelia Eisler (Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg); Katharina Schuchardt (Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde, Dresden)

Eröffnungsvortrag

Simone Abram (Durham): Promises of the past: transformations, transitions and traditions

Panel: Versprechen als Verantwortung

Theresa Gillinger (Wien): Widersprüchliche Versprechen? Die österreichische Sozialdemokratie in Migrationsdebatten der späten Habsburgermonarchie

Tobias Weger (München): Ein nicht eingelöstes Versprechen – die Umsiedlung der Deutschen aus der Dobrudscha 1940 und ihre Folgen

Panel: Ungewissheiten und Unsicherheiten

Christine Hämmerling (Zürich): Zum Verhältnis von Vertrauen, Versprechen und Authentizität. Eine Reflexion am Beispiel der Spendeneinwerbung für NGOs

Cornelia Eisler (Oldenburg): Ungewisses Potenzial? Die Versprechen der Digital Humanities Projekte

Panel: Promised identities / Versprochene Identitäten

Ewa Hengier (Złocieniec): A promise of St. Barbara’s protection as a social mental construct reflected in miners’ intangible cultural heritage: traditions and practices in Upper Silesia. An attempt at describing the phenomenon using Social Cognitive Theory and performative anthropology

Beata Piecha-van Schagen (Chorzów): The promise of identity. The intangible cultural heritage of the inhabitants of Upper Silesia in the context of migration

Panel: Wirkmächtigkeit

Cornelia Dlabaja (Wien): Imaginationen urbaner Zukünfte in Renderings

Katharina Schuchardt (Dresden): Kohleausstieg, Strukturwandel, Transformation. Die Lausitz als Versprechen

Abendvortrag

Alexa Färber (Wien): Versprechen analytisch ernst nehmen: Zum Potenzial verlässlich unverlässlicher Verbindungen

_Panel: Prognostische Dimensionen“

Burkhard Liebsch (Bochum): Zuviel versprochen. Das Soziale, Hyperbolik und Grenzen des Versprechens

Stefan Groth (Zürich): Promise as contingent and anticipatory practice: Tracing futures in multilateral negotiations

Insa Härtel (Berlin): Gendiagnostik und Prävention am Beispiel der Mastektomie Angelina Jolies: Versprechung, Verdacht, Versprecher

Dariusz Komorowski (Wrocław): Zwischen Ästhetik und Politik. Zum Versprechen in literarischen Manifesten

Abschlusskommentar

Silke Göttsch-Elten (Kiel)

Anmerkung:
1 „Volksdeutsche“: „Bezeichnung für zum deutschen Volk gehörende, aber nicht im Deutschen Reich lebende Personen“. – Dieser Bevölkerungstransfer, der auch andere auslandsdeutsche Gruppen betraf, „stand im Kontext der nationalsozialistischen ‚Volkstums-‘ und ‚Germanisierungspolitik‘, mithilfe derer fremde Territorien, insbesondere das annektierte Westpolen, dem deutschen Herrschaftsgebiet einverleibt werden sollten“ (vgl. Jörn Retterath: Volksdeutsche, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2021, URL: https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/volksdeutsche (Stand: 14.02.2022, letzter Zugriff 31.5.2022).

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